Integrative Suchttherapie
Nov 10

Integrative Suchttherapie

Theorie, Methoden, Praxis, Forschung

Hilarion G. Petzold, Peter Schay, Wolfgang Ebert 

(VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 559 Seiten, € 64,99, Paperback ISBN 978-3-531-15104-5, eBook ISBN 978-3-531-90397-2) 

 

 

Mit dem Buch „Integrative Suchttherapie“ hat die Deutsche Gesellschaft für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung e.V. (DGIK) sich der Vielfältigkeit der erfahrungswissenschaftlichen Praxis der Arbeitsfelder der Suchtkrankenhilfe zugewandt, in den die Aspekte von Beratung, Psychotherapie, medizinscher Rehabilitation u.v.m. von wesentlicher Bedeutung für den Betreuungs- und Behandlungserfolg sind. Die DGIK bewegt sich damit in der Tradition schulungsübergreifender Forschungsergebnisse wie sie auch in den richtungsweisenden Beiträgen von Petzold, Grawe u. a. zum Ausdruck kommt.

Dieses Werk führt in umfassender Weise in die psychotherapeutische und sozialtherapeutische Arbeit mit Suchtkranken ein. Seine Zielsetzung ist, Suchttherapeuten, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Pädagogen, Ärzte, Angehörige helfender Berufe, aber auch Patienten und Klienten sowie Eltern und Freunden und Bezugspersonen eine möglichst breite Information zu Themen der Diagnostik und Möglichkeiten der Therapie, sowie zu den Bedingungen und Kontexten süchtigen Verhaltens zu vermitteln.

Auch wenn die Autoren aus der Perspektive der „Integrativen Therapie“ schreiben – oder vielleicht gerade deshalb – haben die hier zusammengestellten Wissenstände und fachlichen Informationen eine übergreifende Bedeutung. In der Behandlung von Suchtkranken, von Alkoholikern, Drogenabhängigen, Polytoxikomanen, Spielsüchtigen ist eine „schulen- und richtungsübergreifende“ Ausrichtung der Weg, den es einzuschlagen gilt, ein Weg differentieller und integrativer Modelle, Konzepte und Methoden. Monomethodische Ansätze haben in diesem Feld wenig Aussicht auf therapeutische Erfolge, denn sie vermögen den Bedürfnissen der Patienten und Klienten und ihrer relevanten Lebensnetzwerke nicht gerecht zu werden. Wenn man Sucht, Drogenabhängigkeit und Alkoholismus, als eine Erkrankung des „ganzen Menschen“ in seiner körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen bzw. soziökologischen Realität sieht, wie es der biopsychosoziale „Integrative Ansatz“ seit seinen Anfängen vertreten hat, wird evident, dass therapeutische Maßnahmen sich mit den somatischen Realitäten einer vielfach geschädigten, „multimorbiden“ Leiblichkeit auseinandersetzen müssen – etwa durch Formen der Sporttherapie, der Atem- und Bewegungstherapie. Bei den in der Regel vorliegenden schwerwiegenden Belastungen, die man in Biographien von Suchtkranken findet: traumatisierende Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, Entbehrungen und Defizite, zerbrochene Familien, soziale Entwurzelung – Einflüsse, die seelische Entwicklung schwerwiegend beeinträchtigt haben, werden umfassende Maßnahmen suchtspezifischer Diagnostik (Osten, dieses Buch, Petzold, Orth, Band II) und einer differentiellen Psychotherapie und Sozialtherapie erforderlich. Nur sie kann Entwicklungsdefiziten, Traumanachwirkungen, Beziehungsstörungen, Doppeldiagnosen (PTBS, BPS), somatischen Erkrankungen (Hepatitis C, HIV u.a.), komplexen Komorbiditäten usw., wie sie für diese Patienten oft kennzeichnend sind, gerecht werden (Ebert, Könnecke-Ebert; Schneider; Ostermann, dieses Buch).

Macht man sich überdies klar, dass Süchtige oft über Jahre in Lebenswelten sozialisiert worden sind, in denen kognitive und emotive Muster der Devianz, der Resignation, des Werteverlustes, der negativen Zukunftserwartungen dominierten, so dass bei vielen Patienten sich eine „negativistische Geisteshaltung“ ausgebildet hat, dann müssen Wege gefunden werden, durch die es zu einer „Neuorientierung“ kommen kann, zu einer „neuen Sicht auf das Leben und die Welt“ (Orth, Petzold, dieses Buch). Da Werte, Normen, Lebensauffassungen – deviante wie konstruktive – wesentlich in gruppalen Überzeugungen, kulturellen und subkulturellen Vorstellungswelten gründen (Lammel, dieses Buch), wird die Kenntnis solcher „kollektiver Kognitionen, Emotionen und Volitonen/Willensakte“ wichtig und damit eine Zentrierung auf die Arbeit mit den sozialen Netzwerken – selbstverständlich in geschlechterdifferentieller Ausrichtung (Vogel, dieser Band), um konkrete Lebenslagen zu beeinflussen und Wiedereingliederungsmaßnahmen erfolgreicher zu machen (Schay, Pultke, dieses Buch).

Das geht natürlich in der Regel nur über längere Zeiträume, und so wird im „Integrativen Ansatz“ aufgrund seiner Ausrichtung an der „Entwicklungspsychologie der Lebensspanne“ und der Longitudinalforschung dezidiert das Konzept einer „Karrierebegleitung“ vertreten. Arbeit mit Suchtkranken sieht sich aufgrund der Komplexität der Lebensverläufe und -situationen, durch die verschiedenen Grade an Chronifizierung, die unterschiedliche Ressourcenlage der Patienten und Klienten, die von „gut“ bis „desolat“ rangiert, häufig in der Situation, sich mit längeren Karriereverläufen befassen zu müssen, Risikofaktoren zu mindern und Schutzfaktoren bereitzustellen (Petzold, Schay, Hentschel, dieses Buch).

So verstandene therapeutische Arbeit ist immer von der gegebenen gesundheitspolitischen und sozialpolitischen Lage und von der gesellschaftlichen Gesamtsituation abhängig, und Zielsetzungen und Maßnahmen werden immer wieder zu kontextualisieren sein.

In den deutschsprachigen Ländern ist die Suchttherapie und besonders die Drogentherapie mit der „Integrativen Therapie“ und ihren „erlebnisaktivierenden“ und „soziotherapeutischen“ Methoden eng verbunden. Und umgekehrt ist der „Integrative Ansatz“ der Psycho- und Soziotherapie mit der Suchttherapie eng verbunden, denn viele seiner Konzepte und Methoden wurden in der Behandlung von Suchkranken – Alkoholikern und Drogenabhängigen – entwickelt. Von Hilarion Petzold. Wurden Entwicklungen auf den Weg gebracht, die das gesamte „Feld“ der Drogentherapie nachhaltig beeinflusst haben:

„Integrative Suchttherapie behandelt in Teil 1 „Kontext und Rahmenbedingungen der Suchttherapie aus einer integrativen Sicht“, die soziologischen, sozialpsychologischen und feldstrukturellen Perspektiven verbindet. Teil 2 bietet kompakte Übersichtsartikel zu „Integrativen Konzepten für die Diagnose und Therapie Suchtkranker“. Teil 3 stellt „Praxeologische Perspektiven“ und konkrete, „dokumentierte Praxisbeispiele“ in theoretisch reflektierten Behandlungsberichten von der Diagnosestellung über die Therapieplanung, den Therapieablauf bis zum Behandlungsabschluss sowie spezifische Vorgehensweisen in Behandlungen vor.

Wir hoffen, dass wir mit diesem Werk einen nützlichen Beitrag zum Felde der Suchttherapie und der Arbeit mit Abhängigkeitskranken leisten können, indem wir die Theoriekonzepte, die methodischen Innovationen, die konkrete therapeutische Praxis, Modelle und Forschungsergebnisse vorstellen, die auf dem Boden dreißigjähriger Erfahrung erarbeitet werden konnten. Eine Besonderheit dieses Werkes besteht überdies darin, dass alle Beiträge von Absolventen – einige sind inzwischen Lehrtherapeuten und Supervisoren – und Dozenten der „Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit“ geschrieben wurden. Fachleute, die in den verschiedenen Bereichen der Suchtkrankenarbeit engagierte Arbeit für unsere Patienten und Klienten und mit ihnen leisten, um die Chancen für ihre erfolgreiche Rehabilitation zu verbessern.