Psychodynamische Psycho- und Traumatherapie
Sep 27

Psychodynamische Psycho- und Traumatherapie

Konzepte – Praxis – Perspektiven

Gottfried Fischer, Peter Schay (Hg.) 

(VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, 229 Seiten, € 37,99, ISBN 978-3-531-16129-7) 

 

„Alles Trauma – Oder?“

– Von der Notwendigkeit einer wissenschaftlich fundierten Traumatherapie – 

Von psychischem Trauma war lange Zeit überhaupt nicht die Rede. Heute scheint dieser Begriff eine gewisse inflationäre Bedeutung anzunehmen. Schlägt man Lehrbücher aus Fachdisziplinen wie Psychiatrie, Klinische Psychologie, Sozialarbeit, Kinderpsychiatrie, Heilpädagogik oder Psychotherapie auf, die vor 1998 erschienen sind, dann taucht „Trauma“ oft nicht einmal im Sachregister auf. Praktiker dieser Disziplinen sind demgegenüber täglich mit den Folgen traumatischer Erfahrungen ihrer Klient*innen/Patient*innen konfrontiert.

Weshalb fanden diese Erfahrungen keinen Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs? 

Die Antwort liegt nahe, dass Wissenschaftler dieser Disziplinen bis hin zu den Psychotherapeuten, den gleichen Abwehrmechanismen gegen Trauma unterliegen wie die Bevölkerung im Allgemeinen, vor allem dem Mechanismus der Opferbeschuldigung: selber schuld. Weshalb ging das Opfer einer Vergewaltigung gerade um diese Uhrzeit diesen Weg entlang? War das nicht vorherzusehen? Sind Opfer nicht auch generell mit verantwortlich oder zumindest doch mitbeteiligt, an dem was ihnen angetan wurde? Sind sie nicht Teil eines sog. „Täter-Opfer-Systems“?

So irrational die „Lösung“ der Operbeschuldigung, die blaming-the-victim-solution auch ist, so fest scheint sie im magischen Denken derer verankert zu sein, die nicht betroffen sind, bisweilen sogar im magischen Denken der Opfer selbst. Von daher ist kaum verwunderlich, dass auch der wissenschaftliche Diskurs von der blaming-the-victim-solution geprüft war und oft noch ist. Wenn Traumatisierung nicht überhaupt ignoriert wird, dann muss das Opfer irgendwie doch mitverantwortlich sein oder – wie in der Psychoanalyse – das Trauma schon aus der frühen Kindheit stammen und/oder ihm eine problematische Persönlichkeitsstruktur zugrunde liegen. Nach dem sog. „Diathese-Stress-Modell“ der biologischen Psychiatrie ist die biologische Diathese (= Disposition) jeweils schon so stark ausgeprägt, dass mehr oder weniger gewöhnlicher „Stress“ ausreicht, eine „Traumafolgestörung“ zu entwickeln. Auch experimental-psychologisch wurde die Traumatisierung bislang noch nicht nach-gewiesen („Gott sei Dank!“). Daher ist aus den genannten Richtungen auch in Zukunft immer wieder die skeptische Frage zu erwarten, ob es denn psychisches Trauma überhaupt gebe. Nur selten kommen Vertreter dieser Richtungen auf die Idee, es könne an der von ihnen bevorzugten und zumeist verabsolutierten Forschungsmethode liegen, dass psychische Traumatisierung, so deutlich sie im klinischen Alltag in Erscheinung tritt, nicht „exakt“ beweisbar ist.

Es ist kaum verwunderlich, dass zu dieser jahrzehntelangen Tradition wissenschaftlich bemäntelter Opferbeschuldigung mit der Zeit eine Gegenbewegung entstanden ist, die man vielleicht als „Trauma-bewegung“ bezeichnen kann. Sie ging zunächst von den Betroffenen aus, von sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung (Sicherheit am Arbeitsplatz, menschenwürdige Arbeitsbedingungen usw.) sowie der Frauenbewegung und nicht zuletzt von jenem Teil sozialer Berufe, deren Angehörige sensibel genug sind, ihren Klient*innen/Patient*innen zuzuhören. Wie bei jeder „Gegenbewegung“ aber kann leicht eine Reaktivität und „Gegenabhängigkeit“ zu dem entstehen, was überwunden werden soll. Daher ist es zunächst einmal nötig, den Begriff „Trauma“ sorgfältig zu definieren und einzugrenzen. Das leistet im vorliegenden Band Peter Osten in vorbildlicher Weise, wobei der Beitrag der „Integrativen Psycho-therapie“ sich als wesentliche begriffliche Bereicherung erweist. Dieser Bemühung, das Traumakonzept zu begrenzen, schließt sich auch der Vorschlag von Gottfried Fischer an, psychisches Trauma in ätiologischer Hinsicht als nur eine – wenn auch sehr bedeutsame – Ausgangsbedingung von psychischen Störungen zu betrachten, neben Über- und Untersozialisation sowie primär biologischen Ursachen, die genetisch übermittelt sind (2005a, 2007). Demnach ist also nicht alles Trauma. Wir brauchen in der klinischen Praxis auch die Kenntnis alternativer Ursachen. Übersozialisation, z.B. eine zu strenge, triebverneinende Erziehung, kann ebenfalls Störungen erzeugen, klassischerweise vom Typ der Neurose. Ebenso Verwöhnung und Vernachlässigung von Kindern im Stile einer laissez-faire-Erziehung. Wir müssen nicht unser gesamtes bisheriges Wissen von der Entstehung psychischer Störungen „über den Haufen werfen“, um den traumatischen Hintergrund vieler psychischer Störungen zu erkennen und angemessen zu behandeln. Aber zahlreiche Einseitigkeiten der traditionellen klinischen Theorie und Praxis sind zu korrigieren, wollen wir der psychotraumatischen Ätiologie und den Traumafolgestörungen gerecht werden und traumatisierten Klient*innen/Patient*innen in Beratung und Psychotherapie wirklich helfen.

Die in diesem Band versammelten Beiträge des Fachtages „Alles Trauma – Oder?“ der Arbeitsgemeinschaft Psychotherapeutischer Fach-verbände e.V. (AGPF) und des Deutschen Institutes für Psychotraumatologie e.V. (DIPT) am 29.09.2007 in Köln eröffnen eine sehr positive, optimistisch stimmende Perspektive. Sie machen deutlich, dass viele der traditionell voneinander abgespaltenen Richtungen aus Therapie und Beratung näher zusammenfinden, wenn einmal die blaming-the-victim-solution der traditionellen Psychologie, Medizin und Pädagogik über-wunden ist. Die Beiträge von Silke Brigitte Gahleitner und Annette Höhmann-Kost/Frank Siegele verdeutlichen das für die Gesprächs-psychotherapie und die Integrative Psychotherapie, der Beitrag von Gottfried Fischer für die psychodynamische Richtung. „Humanistische Psychologie“ – das ist seit Mitte des vorigen Jahrhunderts eine starke psychosoziale Bewegung, deren verschiedene Zweige oft nicht wirklich zusammenfanden. Überwinden wir aber die tradierte Opferbeschuldigung, eine Neigung, die nicht nur außerhalb von uns, sondern auch bei uns selbst besteht, dann entfallen die alten Differenzen, z.B. auch die zwischen Psychodynamik/Psychoanalyse und humanistischer Psycho-logie. Denn was wäre humaner als sich dem Leid unserer Klienten zu öffnen und zu verhindern, dass leidvolle Extremerfahrungen, die sie machen mussten, ihr weiteres Leben bestimmen? Als unseren Klient*innen/Patient*innen (und evtl. auch uns selbst) dabei zu helfen, nach einer traumatischen Erfahrung wieder den Mut zu gewinnen, ihr eigenes Leben mit all seinen Möglichkeiten zu gestalten? Und vielleicht sogar noch mit einigen mehr als vor dem Trauma.

Neben der traditionellen Verleugnung von Trauma einerseits und einer allzu euphorischen Überdehnung dieses Konzepts in der Gegenreaktion liegt eine dritte Gefährdung, die Errungenschaften der „Trauma-bewegung“ zu verlieren, im um sich greifenden Objektivismus von experimenteller Psychologie und biologischer Psychiatrie. Diese Disziplinen tendieren dahin, sich wie der Behaviorismus von der „Innen-perspektive“ des Menschen zu verabschieden und als „wissenschaftlich gesichert“ nur noch das anzuerkennen, was sich im Sinne der experimentellen Psychologie als funktionale Abhängigkeit einer sog. Abhängigen von einer oder mehreren Unabhängigen Variablen als mathematische Gleichung darstellen lässt oder was – im Falle der bio-logischen Psychiatrie – letztlich durch Naturgesetze, durch physikalische und biochemische Prozesse nachweisbar ist. Menschliche Subjektivität und Intentionalität bildet für diese Disziplinen lediglich ihren „vorwissenschaftlichen“ Gegenstand, während sie den wissenschaftlichen Gegenstand allein über ihre reduktionistische (biologische Psychiatrie) und manipulative Methodik (experimentelle Psychologie) bestimmen. Der Gegenstand wird durch die Methode definiert und nicht – wie es sein sollte – die Methode in Wechselbestimmung mit ihrem Gegenstand (vgl. Fischer 2008a). Werden aber subjektives Erleben und die subjektive Befindlichkeit des Menschen aus der Wissenschaft ausgegrenzt, so verliert auch die Rede von psychischer Traumatisierung ihre Bedeutung. Es ergibt schlichtweg keinen Sinn, von einem „Verhaltenstrauma“ oder einem „Neurotrauma“ zu sprechen. Verhalten als objektives Phänomen kann nicht traumatisiert, sondern nur mehr oder weniger beliebig konditioniert und umkonditioniert werden. Ebenso führt der unmittelbare Rückgang auf ein „neurologisches Substrat“ zurück von der Psycho- zur Neurotraumatologie und verspielt die inzwischen bei Fachleuten wie auch in der Bevölkerung weit verbreitete Einsicht, dass „seelische Verletzungen“ ebenso real sind und ebenso folgenreich sein können wie die körperlichen auch.

Das auch ein nicht-manipulativer und nicht-reduktionistischer Zugang zu Neurobiologie und Biochemie von Stress und psychischer Traumatisierung möglich ist, zeigen die Beiträge von Robert Bering und Kurt Mosetter in diesem Band. Ein naturwissenschaftlicher Beitrag zur Psychotraumatologie muss nicht „reduktionistisch“ sein. Im Gegenteil: Das Programm einer humanistischen Psychotherapie erfordert, auch den menschlichen Körper und seine möglichen Erkrankungen einzubeziehen – als „exzentrisches“ (Plessner) Zentrum der menschlichen Lebenswelt. Menschliches Seelenleben besteht aus Natur und Kultur, aus Leib und Seele, aus Natur und Geist. Geist ohne Natur und Natur ohne Geist: Das sind die beiden Sackgassen, in die Psychotherapie und Humanwissenschaften geraten können. Werden diese an sich dialektisch aufeinander bezogenen Pole voneinander isoliert, dann haben wir es nicht mehr mit naturwissenschaftlichen Annahmen zu tun, sondern mit einer pseudo-naturwissenschaftlichen Ideologie und komplementär dazu mit einer pseudo-geisteswissenschaftlichen Ideologie, wenn die natürlichen Grundlagen des menschlichen Geistes unberücksichtigt bleiben. Die Arbeiten von Kurt Mosetter und Annette Höhmann-Kost/Frank Siegele zeigen, wie die Verbindung von Seelenleben und menschlichem Leib therapeutisch wiederhergestellt werden kann, ohne in die eine oder andere Einseitigkeit zu verfallen. Bei Kurt Mosetter und Robert Bering wird deutlich, dass auch ein sehr subtiles und avantgardistisches medizinisches Wissen in den Dienst einer humanistischen Psychotherapie treten kann, aus der Perspektive des „gelebten Leibes“ (Maurice Merleau-Ponty) heraus und ohne die Reduktion der menschlichen Existenz auf ihre Körperlichkeit, ohne Reduktion des menschlichen Geistes auf sein Organ Gehirn, letzteres programmatisch verkündet im „Manifest“ (s.u.) der „elf Gehirnforscher“, deren Weisheiten sich etwa so wiedergeben lassen: „Wenn ich glaube zu denken, dann denkt mich in Wirklichkeit mein Gehirn“ (eine brilliante Kritik hierzu findet sich bei Wetzel, 2006).

Die heute um sich greifende Verdinglichung des menschlichen Geistes zum „Gehirn“, die Leugnung einer wie immer auch relativen Entscheidungsfreiheit zugunsten einer strikten Determination des menschlichen Denkens durch die Chemie und Physik der neuronalen Prozesse im Zentralen Nervensystem, macht begriffliche Unter-scheidungen notwendig, unter welchen Bedingungen sich biologische Ansätze die Psychotherapie jeweils ergänzen können und wann sie andererseits den psychotherapeutischen Gegenstand zerstören. Hier wurde der Begriff einer „subjektiven Biologie“ vorgeschlagen (Fischer et al. 2008). Er klingt zunächst ungewohnt und mag manchem vielleicht sogar „paradox“ vorkommen. Er scheint aber recht gut geeignet, die in diesem Band versammelten psychobiologischen Beiträge gegen jenen „Biologismus“ abzugrenzen, der in experimenteller Neuropsychologie und Neurobiologie heute immer mehr um sich greift (vgl. Fischer et al. 2008b). Subjektive Biologie, so kann man definieren, ergänzt den psychotherapeutischen Gegenstand und fügt sich ihm ein, während die objektiv biologischen Ansätze ihn tendenziell ersetzen, so dass Pharmakotherapie und andere manipulative Verfahren schließlich auch in der Praxis an die Stelle genuiner Psychotherapie treten. Da dieser Schritt von der psychotherapeutischen Praxis aus sich kaum begründen lässt, muss er durch gesundheitspolitische „Richtlinien“ abgesichert werden, die ein symptomzentriertes, manipulatives und „biologisch“ flankiertes Vorgehen über Fallkosten-Pauschalen als verbindliche Richt-schnur der klinischen Praxis in Deutschland festschreiben.

Menschliches Seelenleben, Geist, begrenzte Entscheidungsfreiheit und „Entwurf“ des Lebens und der menschlichen Existenz – all diese positiven Qualitäten des Menschen bringen als ihr Negativum ein relativ hohes Maß an seelischer Verletzlichkeit und Sensibilität für Umwelt-einflüsse mit sich. Menschenrechte und menschliche Würde sind ebenso fragile wie unverzichtbare Werte für das Individuum wie das zwischen-menschliche Zusammenleben. Psychotraumatologie, die Lehre von seelischen Verletzungen, ihrer Prävention und den Möglichkeiten ihrer Heilung – primär durch Dialog und therapeutische Beziehungsgestaltung (vgl. Fischer 2008 a) – ist gebunden an ein Welt- und Menschenbild, das Würde, Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Menschenwürde und die Lehre von den seelischen Verletzungen des Menschen gehören zusammen, wie die in diesem Band versammelten Beiträge verdeutlichen.

Das menschliche Seelenleben berühren wir insbesondere durch körperorientierte psychotherapeutische Verfahren, die am Körper des Patient*innen und an den sich entwickelnden kreativen Prozessen ansetzen. Claudia Schedlich und Erika Sander führen uns in die Traumaadaptierten Tanz- und Ausdruckstherapie – TATT – ein; einem Therapieansatz der diese Prozesse nutzt und insbesondere auf Aspekte der Stabilisierung fokussiert. Ziel dabei ist die Stärkung der Selbstwirksamkeit, der Traumakompensation und Distanzierungsfähigkeit, der Sensibilisierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Fördeurng eines positiven Körper-Selbsterlebens sowie Vitalisierung.

Der für dieses Buch verfasste Beitrag von Peter Schay und Ingrid Liefke verdeutlicht aus dem Blickwinkel der Integrativen Therapie wie notwendig es gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen ist, die engen Grenzen der traditionellen Verfahren zu überschreiten und zu einer psychotherapeutischen Kultur zu kommen, die sich an einer pluralen Informations- und Wissensgesellschaft orientiert, in der eine Vielfalt von Lebenskonzepten, Menschenbildern, Wertvorstellungen und Zugangsweisen zur Welt nebeneinander ihren legitimen Platz haben.

Karl-Otto Hentze zeigt eindrucksvoll auf, dass vielfältige Verstehenswege und unterschiedliche Zugangswege in der Psychotherapie notwendig sind, um der Vielfalt unterschiedlicher menschlicher Lebensentwürfe gerecht werden zu können.

Er ermutigt uns, einer administrativen Entwicklung in der aktuellen Psychotherapielandschaft in Deutschland entgegenzuwirken, die den verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen die Fähigkeit und die Kompetenz absprechen will, zur Gesundheitsversorgung beizutragen.

Der Autor motiviert uns, einer Entwicklung entgegenzuwirken, an deren Ende der Mensch in der Psychotherapie keine Rolle mehr spielen, in der vielmehr mit verengtem Blick auf das Symptom Techniken verabreicht werden, in der es der Expertise eines ausgebildeten Psychotherapeuten nicht mehr bedarf, in der der Techniker die ihm vorgeschriebenen Instrumente anwendet.