Innovative Hilfe- und Leistungsangebote in der Drogenhilfe
Sep 26

Innovative Hilfe- und Leistungsangebote in der Drogenhilfe

Inhaltliche Weiterentwicklung in der Beratung, Betreuung und Behandlung

Peter Schay 

(VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, 189 Seiten, € 39,99, Paperback ISBN 978-3-531-17391-7) 

 

Innovative Drogenhilfe (Vorwort)

Seit über 30 Jahren wird in der Drogenhilfe darum gerungen, wie die einzelnen Hilfeangebote inhaltlich zu gestalten sind, wie eine Zusammenarbeit der beteiligten Professionen optimiert werden kann und wo sie rechtlich einzuordnen sind.

Dabei ergeben sich aus den einzelnen Rechtsbereichen (Leistungsrecht, Berufsrecht, Betäubungs-mittelgesetz, Sozialrecht, Strafrecht, …) hoch komplexe Fragestellungen, die je nach Auslegung unterschiedlich zu gewichtende Verknüpfungen und damit maßgebliche Auswirkungen auf die einzelnen Leistungssegmente haben.

Da immer wieder auch gegensätzliche Interessen auszugleichen sind (bspw. im Spannenfeld der medikamentengestützten Rehabilitation zwischen substituierenden Ärzten und PSB-Fachkräften), geht es in der Auseinandersetzung häufig mehr um Zuständigkeiten und damit verbunden die finanziellen Mittel und weniger um das Wohl der Patient*innen.

Die beteiligten Akteure der verschiedenen Professionen begegnen sich in der Folge auf dem Gesundheitsmarkt als autonome Wirtschaftssubjekte, deren Interesse darauf gerichtet ist, möglichst günstige Bedingungen für ihre Angebote auszuhandeln (vgl. Hardt, Müller 2009, 273).

In dieser komplizierten Gemengelage muss sich die Drogenhilfe mit ihren Leistungsangeboten positionieren und steht in der Verpflichtung, die Beratungs-/Betreuungs-/Behandlungsmöglichkeiten kontinuierlich weiter zu differenzieren, um den sich verändernden fachlichen Anforderungen und den Präferenzen der Patienten gerecht werden zu können.

Die gemeinsame Zieldimension der verschiedenen Betreuungs- und Behandlungsmaßnahmen dabei ist, den abhängigkeitskranken Menschen menschenwürdige gesundheitliche und soziale Lebens-bedingungen und – soweit möglich – eine berufliche wie auch eine soziale (Re-)Integration zu ermöglichen; d.h. je nach Alter, Geschlecht, sozialer Schicht, der Schwere der psychischen und/oder physischen Komorbidität, den Zugang zu den unterschiedlichen medizinischen und sozialen Hilfeangeboten des Drogenhilfesystems unbürokratisch zu gestalten und zu ermöglichen.

Angesichts der heterogenen Bedürfnisse und Voraussetzungen der Menschen mit Drogenproblemen ist dementsprechend eine ganzheitliche und differentielle Angebotsstruktur notwendig, sind (idealtypisch) die Leistungssegmente aufeinander abstimmt, werden kontinuierlich weiterentwickelt und stützende psychosoziale Versorgungs-/Leistungssysteme i.S. eines Netzwerkes gefördert, um den psychosozialen Lebens- und Konsumbedingungen der unterschiedlichen Zielgruppen entsprechen zu können.

Der Konsum von Drogen verursacht – je nach Disposition des Konsumenten, Intensität und Dauer des Konsums und Qualität der Droge(n) – somatische, neurologische und psychische Schäden. Häufig zeigen sich ausgeprägte komorbide Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, PTBS etc..

Nach Thomasius et al. (2001) kann insbesondere früher Drogenkonsum verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. Von kinder- und jugendpsychiatrischer Relevanz sind vor allem Depressionen, Panikstörungen, Phobien und dissoziale Störungen. Zunehmend finden sich bei Canabiskonsumenten auch Reifungs- und Entwicklungsstörungen (nach Fegert, Häßler 2004). Thomasius et al. (2003) bezeichnen Suchtstörungen als epidemiologisch wichtigste entwicklungs-bezogene Störungen im Kindes- und Jugendalter.

Zu Beginn des Konsums psychotroper Substanzen kommt es zu positiv bewerteten Erlebnissen und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe wird als Aufwertung empfunden. Negative Auswirkungen (u.a. familiäre Konflikte, abnehmende schulische Leistungsfähigkeit/Teilhabe am sozialen Leben etc.) werden oft nicht reflektiert und führen nicht zu Verhaltensänderungen.

Wenn sich aus dem sporadischen Konsum ein schädlicher Gebrauch entwickelt, stehen nicht mehr Neugier und Zugehörigkeit im Zentrum der Motivation, sondern die gewünschte Beeinflussung der Stimmung. Veränderungen im Bereich der Normen und Werte (deviante Entwicklungen) sind festzustellen.

Eine Einsicht in Behandlungsbedürftigkeit entwickelt sich üblicherweise erst im Verlauf von Jahren. Entsprechend werden in Konsumzeiten adoleszente Entwicklungsaufgaben nur eingeschränkt wahrgenommen.

„Rehabilitation soll chronischen Erkrankungen vorbeugen, die Arbeitskraft chronisch Kranker soweit als möglich wiederherstellen und erhalten, Behinderungen … durch funktionsbezogenes Training beheben oder mindern und … Abhängigkeitserkrankungen u.a. durch psycho- und verhaltens-therapeutische Maßnahmen soweit beseitigen, dass der Patient*innen eine aktive Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben wieder möglich wird“ (Borges et al. 2006, 2).

Mit der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen vom 04.05.2001 mit Wirkung zum 01.07.2001 ist eine neue Arbeitsgrundlage für die Behandlung Suchtkranker gegeben. Danach ist eine flexible und patientengerechte Gesamtbehandlung möglich, d.h. die Voraussetzungen einer Modifikation des Behandlungsansatzes i.S. einer integrierten Behandlung sind gegeben, was die Erweiterung des Indikationsbereichs auf legale und illegale Suchtmittel beinhaltet – aus Sicht der Leistungsträger eine nicht unumstrittene Interpretation.

In der Behandlung von abhängigkeitskranken Patient*innen legaler und illegaler Suchtmittel ergeben sich nicht nur gleiche oder ähnliche Problemstellungen, sondern auch identische Behandlungsziele. Dies leitet sich auch aus der Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen aus 2006 und der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen vom 04.05.2001 und dem Gesamtkonzept zur Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen vom 15.05.1985 ab; d.h. eine Unterscheidung medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen nach Suchtmitteln findet sich in den Richtlinien, Empfehlungen und Vereinbarungen zur Rehabilitation in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung nicht.

Diese Grundprinzipien sind nicht nur relevant im Bereich medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen, sondern müssen, um eine fach- und sachgerechte Betreuung der Klientel zu gewährleisten, auch in den Arbeitsfeldern der Beratung/Betreuung und sozialen Rehabilitation in den Fokus genommen werden; denn den Abhängigkeitskranken gemeinsam ist „eine zentrale Ich-Schwäche mit typischen Entwicklungsdefiziten im Bereich der Frustrationstoleranz, Impulskontrolle, Affektdifferenzierung und -toleranz sowie Realitätsprüfung; ein labiles Selbst mit extremen Selbstwertschwankungen und Tendenz zur Fragmentierung; eine tiefgehende Beziehungs- und Identitätsstörung“ (Olk 2000, 364).

In den unterschiedlichen Leistungssegmenten der Drogenhilfe – bspw. die in diesem Buch vorgestellten Leistungsangebote der Betreuung suchtmittelkonsumierender und -abhängiger Jugendlicher im Strafvollzug, der Psychosozialen Betreuung substituierter Drogenabhängiger (PSB), Adaption (als Phase II der medizinischen Rehabilitation Drogenabhängiger), des Ambulant Betreuten Wohnens (BeWo) – stellen sich für abhängigkeitskranke Menschen (legaler und illegaler Suchtmittel) dementsprechend sehr ähnliche Fragen und psychosoziale Probleme: die soziale Kompetenz der Patient*innen, ihre Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, ihre Fähigkeit sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erfassen, zu verstehen und sich mitzuteilen, ist als Folge des häufig bereits im Kindes- und Jugendalter begonnenen Suchtmittelkonsums „verarmt“.

„Die Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen der Substanzabhängigkeit sind vielfältig und ursächlich auf gesellschaftliche, soziale und individuelle Faktoren zurückzuführen. Die Ursachen der Substanzabhängigkeit lassen sich nicht monokausal festlegen. Vielmehr führen eine Vielfalt von traumatisierenden Ereignissen über die gesamte Lebensspanne sowie fehlende stützende und fördernde Faktoren zur Ausprägung des Krankheitsbildes und -verlaufs. Die daraus resultierenden, oft schwerwiegenden Schädigungen des Individuums sowie seines sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes erfordern ein breites Spektrum an (sozialintegrativen und) therapeutischen Hilfsangeboten im Sinne einer individuellen, umfassenden Prozessbegleitung, die sich über den Zeitraum des (problematischen) Drogenkonsums, der Abhängigkeit, des Ausstiegsprozesses inklusive der nachsorgenden Betreuung erstreckt“ (Siegele, Höhmann-Kost 2002, 13).

Der Verfasser zeigt mit Innovative Drogenhilfe in den verschiedenen Bereichen der Beratung, Betreuung und Behandlung Möglichkeiten auf, wie eine an den Lebensverhältnissen und Bedarfen von konsumierenden und abhängigen Menschen ausgerichtetes Hilfe- und Leistungssystem der Drogenhilfe auf der Basis fachlicher Notwendigkeiten und wissenschaftlicher Erkenntnisse gestaltet werden kann und will auch zu einer kritischen und – soweit nötig – kontroversen Reflexion und Diskussion einladen.